Kurzgeschichte
Der Bestatter
Idee, Text und Illustration von Giulia Di Romualdo

Ein helles Glöckchen erklang, als Max die Tür aufdrückte. Der überwältigende Duft tausender Blüten liess ihn jedes Mal kurz stocken. Langsam betrat er den lichtdurchfluteten Laden. In seiner schwarzen Kluft schien er fehl am Platz. Wie der Tod inmitten blühenden Lebens. Sein Herz pochte, er spürte, wie sich Schweissperlen auf seiner Stirn bildeten. Die hageren Beine wurden weich, sein Bart, welcher bereits von grauen Haaren durchzogen war, juckte. Er zog seinen Hut mit der breiten Krempe tiefer in die Stirn und trat an den Tresen heran.
Dahinter stand sie, ihm noch den Rücken zugekehrt. Sein Puls schlug noch schneller. Wie wunderschön sie war. Ihre langen, orangen Haare flossen ihren Rücken entlang herab. Wie ein freundliches Feuer. Ein oranges, freundliches Feuer, das alles um sich herum erhellte. In ihrer Nähe schien alles noch schöner, noch bunter zu leuchten. Im Moment, als sie sich umdrehte und er endlich ihre warmen Augen sehen konnte, stiess der Besitzer des Blumenladens die hintere Tür auf. "Lucy, Schatz, ich mach schon."
Der Koloss von Mann stellte sich vor Max hinter die Theke. Sein Haar war hell und voll, seine Schultern breit, seine Stimme mächtig. Das pure Gegenteil von Max.
"Herr Bestatter", grüsste er. "Was darfs sein?"
Max versuchte nervös, sich zu konzentrieren. Lucy sah von ihrer Arbeit hoch. Alle warteten. Max’ Kehle war trocken. Wo sonst seine Stimme sass, war nun gähnende Leere. Der Florist holte merklich Luft. "Das Übliche?"
Max nickte.
Während der Florist die Bestellung bearbeitete, blieb Max verloren vor dem Tresen stehen. Er sah auf seine Fussspitzen. Er wagte nicht, Lucy nochmals anzusehen. Reglos stand er da, ein schwarzer Fleck inmitten eines Blütenmeers. Wie gerne hätte er sich seine schwarzen Kleider vom Leib gerissen. Die Last der Trauer hunderter Menschen abgeworfen und ihre meidenden Blicke vergessen. Wie gerne hätte er sich den bunten Schurz geschnappt und selbst die Blumen gebunden. Aber er wusste, dass hier nicht sein Platz war.
Seine schwarze Kluft fühlte sich an, als wollte sie ihn erdrücken.
Nach einigen Minuten legte der Florist einen kleinen, farbigen Strauss auf die Theke.
"Narzissen sind leider nicht mehr Saison. Ich habe sie durch Dahlien ersetzt, die haben etwa dieselbe Farbe."
Max nickte.
"Ist das alles?"
Max nickte.
"Gut, ich schreibe es Ihnen auf die Rechnung. Sie können es nächste Woche mit dem Rest bezahlen."
"Danke", drückte Max hervor, nahm seinen Strauss Blumen und bewegte sich fluchtartig Richtung Ausgang. An der Tür angekommen, hörte er hinter sich den Floristen murmeln.
"Lucy, Schatz, war er eigentlich schon während eurer Schulzeit so?"
"Nein…", antwortete Lucy, "aber er war schon immer etwas… anders."
Die Tür fiel hinter Max zu.

Der Vater sass auf der Holzbank vor dem windschiefen Haus. Die Pfeife längst erloschen, den Gehstock vor sich auf den Boden gestützt, sass er da und wartete auf Max' Rückkehr. Er trug die schwarzen Kleider immer noch jeden Tag mit Stolz. Bestatter zu sein, lag in der Familie und so sollte es für immer bleiben. Die Tradition, das Erbe musste bewahrt und zelebriert bleiben.
"Wann hörst du endlich auf mit diesem Blumen-Quatsch!", krächzte er Max entgegen, sobald dieser durch das knarrende Gartentor getreten und in Hörweite war.
"Ich sage dir, die Blumen gehören auf den Friedhof! Was macht das denn für ein Bild! Jede Woche machst du uns zum Gespött, wenn du dich so jämmerlich mit deinen Blümchen durchs Dorf schleppst! Wir sind stolze Bestatter! Was macht das denn für einen Eindruck!"
Max brauchte nicht hinzusehen, um den stechenden Blick des Vaters auf sich zu spüren. Wie tausende spitze, kleine Nadeln durchbohrten ihn die Vorwürfe des Vaters.
Nicht allein durch das Schleppen der Särge war sein Rücken jedes Jahr ein Stück krummer geworden.
"Hörst du, zum Gespött machst du uns!" Der Vater wollte nicht lockerlassen. "Wir sind ehrenwerte Bestatter, wir sind ehrbare, tüchtige Männer!"
"Du hast mir das Unternehmen vermacht. ICH bin der Bestatter", seufzte Max in seinen Bart, wohl wissend, dass der Vater es nicht hören würde.
"Ausserdem hast du ja eh keine, der du die Blumen schenken könntest! Und heute warst du noch gar nicht auf dem Friedhof. Du musst noch für nächste Woche vorbereiten!", krächzte der Vater weiter. "Wann willst du das denn machen! Seit fünf Jahren bist du im Amt und immer noch muss ich dir…"
Seit zwölf Jahren, dachte Max. Seit zwölf Jahren. Da hattest du deinen Bandscheibenvorfall. Und ich musste zurückkommen, um dich und den Betrieb zu retten.
Max liess seinen Vater weiterschimpfen und verschwand ins Haus. Er stolperte die alte Holztreppe hinauf zu seiner Kammer, seinem Rückzugsort. Hier kam der Vater nicht mehr hoch.
Max liess den schwarzen Umhang zu Boden gleiten und legte den Blumenstrauss neben den grossen Glaskasten vor dem Fenster. Er zog den wackeligen Holzstuhl heran und setzte sich vor das Terrarium. Er schloss die Augen. Atmete tief ein und wieder aus. Ein, aus. Sein Atem lief ruhiger, seine Schultern senkten sich. Er hatte gar nicht bemerkt, wie angespannt er war.
Er öffnete die Augen und blickte ins Terrarium. Da waren sie, warteten auf ihn. Ohne Worte waren sie für ihn da, bildeten die Brücke zu seinen Träumen.
Er nahm den kleinen Blumenstrauss und legte ihn sachte mitten ins Terrarium. Als hätten sie darauf gewartet, kamen aus allen Winkeln kleine, wuschelige, orange Raupen angekrochen. Sie freuten sich auf ihr Festmahl.
Max stützte seinen Kopf in die Hände und sah zu, wie die kleinen orangen Tiere die frischen Blumen langsam zerfrassen. Wie kleine, freundliche Feuer.
